Drei Fragen an InkluServ - Gestaltung digital unterstützter Interaktionsarbeit von schwerbehinderten Auslieferungsfahrern
„Drei Fragen an…“ ist ein Kurzinterview-Format, in dem Projekte aus dem Förderschwerpunkt über ihre Arbeit berichten.
Datum 29.03.2021
Etwa 2,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung sind in Deutschland erwerbstätig. Die Interaktionsarbeit bietet ihnen in besonderer Weise eine Chance auf unmittelbare Integration und auch der digitale Wandel kann den direkten Kontakt von schwerbehindertem Personal und nichtbehinderten Kunden fördern und damit zur Inklusion beitragen.
Hier setzt das Projekt InkluServ an: Mithilfe eines digitalen Assistenzsystems sollen Menschen mit Behinderungen stärker in die Lebens- und Arbeitswelt integriert werden. Das System unterstützt schwerbehinderte Auslieferungsfahrer*innen eines inklusiven Supermarkts dabei, mit einem E-Lastenbike Waren auszufahren und ermöglicht damit eine selbstständige und direkte Interaktion mit dem Kunden. Körperliche, kognitive und psychische Einschränkungen können so ausgeglichen, berufliche Einsatzbereiche erweitert und die Interaktionskompetenz sowie die Eigenständigkeit der Auslieferungsfahrer*innen gesteigert werden.
1. Warum es sich Ihr Projekt zum Ziel gesetzt, Auslieferungsfahrer*innen mit Behinderung digital zu unterstützen?
Grundsätzliches Ziel ist es, Mitarbeiter*innen mit Behinderung Tätigkeiten anzubieten, die außerhalb des direkten Betreuungsbereiches der Werkstatt liegen. Insbesondere Interaktionsarbeit bietet Menschen mit Schwerbehinderung die Chance auf unmittelbare Inklusion in die Lebens- und Arbeitswelten der Mehrheitsgesellschaft. Der direkte Kontakt zwischen schwerbehindertem Servicepersonal und nichtbehinderten Kunden fördert die erlebte Wertschätzung von Menschen mit Schwerbehinderung, da sie als selbstständig handelndes Individuum und nicht als betreute Person wahrgenommen werden. Das Assistenzsystem bietet nicht nur die Möglichkeit, in visueller und auditiver Form Unterstützung für die Auslieferungsfahrer*innen zu leisten, sondern auch deren unterschiedliche Fähigkeiten zu berücksichtigen.
2. Was ist zu beachten, damit Assistenzsysteme die Mitarbeiter*innen mit Behinderung wirklich unterstützen und nicht durch neue Anforderungen belasten?
Zunächst müssen diejenigen Fähigkeiten und Kompetenzen der Fahrer*innen ermittelt werden, die für den Auslieferungsprozess relevant sind. Dazu zählen z. B. die Grundfertigkeiten Lesen und Zählen, das Konzentrationsvermögen, die Merkfähigkeit oder das räumliche Orientierungsvermögen. Darauf bauen die Kompetenzen auf, die die Fahrer*innen benötigen, um z. B. die bestellten Waren in der richtigen Anzahl in die richtigen Auslieferungsboxen einzusortieren, den geladenen Akku in das E-Lastenbike einzustecken und sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen.
Diesen Kompetenzen stehen Anforderungen gegenüber, die sich aus normalen und aus kritischen Anforderungssituationen ergeben. Normale Anforderungen betreffen z. B. das Auffinden der Kundenadresse, das Tragen der Waren von der Straße bis zur Haustür des Kunden und das Aushändigen des vorher abgezählten Wechselgeldes. Kritische Anforderungen ergeben sich z. B. bei schwierigen Kundenreklamationen, bei einer Reifenpanne oder wenn sich der oder die Auslieferungsfahrer*in verfährt. Das Assistenzsystem muss Unterstützung für alle Anforderungen leisten, die die Fähigkeiten der Auslieferungsfahrer übersteigen können. So kann über einen einfachen Knopfdruck ein Videoanruf zu einem oder einer Betreuer*in der Werkstatt aufgebaut werden, um im Fall des Falles persönlichen Rat zu ermöglichen.
Die Fahrer-App wird barrierefrei gestaltet, um die Fahrer*innen mit Behinderung sicher durch den Auslieferungsprozess zu leiten. Dazu gehört die Navigationsansicht mit reduzierten Informationen und intuitiver Bedienung, erweiterten Lieferhinweisen, die der Kunde bereits im Webshop eingibt, und ein Hilfe-Menü, das Unterstützung für die Interaktion mit dem Kunden leistet. Zusätzlich stellen eigens entwickelte Qualifizierungsmaßnahmen sicher, dass die Fahrer*innen die Anforderungen der Auslieferungsfahrten bewältigen können, z. B. in Form eines E-Lastenbike-Führerscheins.
3. Kann das Assistenzsystem für Auslieferungsfahrer*innen, das Ihr Projekt entwickelt, auch in anderen Kontexten eingesetzt werden?
Ja, dafür sehen wir mehrere Anwendungsmöglichkeiten. Unser Assistenzsystem erlaubt eine individuelle, fähigkeitsgerechte und damit präventive Belastungssteuerung für die Auslieferungsfahrer*innen. Diese Individualisierung ist in den heute auf dem Markt verfügbaren Tourenplanungsprodukten noch nicht möglich, denn hier hat die Auslieferung möglichst vieler Warensendungen klare Priorität vor den Bedürfnissen des Fahrers bzw. der Fahrerin. Bekannt sind die schlechten Arbeitsbedingungen für Kurierfahrer*innen. Hier eröffnet sich die Chance, in weiteren Logistikbereichen eine präventive Arbeitsgestaltung zu erzielen und die Belastung der Fahrer*innen zu reduzieren.
Das Assistenzsystem unterstützt auch Bestrebungen, die „letzte Meile“ der Warenlieferung in Städten emissionsarm zu betreiben. Hier laufen zur Zeit mehrere Projekte, die auf E-Lastenbikes setzen. Interessant ist auch die Variante, Bestellungen eines Kunden bei mehreren Geschäften von einem oder einer E-Bike-Fahrer*in abholen zu lassen, um dem Kunden die Einzelbesuche der Geschäfte zu ersparen und gleichzeitig den regionalen Einzelhandel zu stärken.
Im Privatbereich können Assistenzsysteme wie das des Projekts InkluServ dazu beitragen, dass vielbeschäftigte Eltern sowie Kinder, Senioren und Menschen mit Behinderung ihre Aktivitäten komfortabel planen und sicher zu den Orten der täglichen Besorgungen gelangen. In der Nachbarschaftshilfe könnten so auch Bestellungen mehrerer Nachbarn gebündelt bearbeitet werden, was die Inklusion bewegungseingeschränkter Personen unterstützt.
Nicht zuletzt kann das Assistenzsystem des Projekts InkluServ nach Projektende auch von anderen Werkstätten für Menschen mit Behinderung eingesetzt werden, die häufig auch inklusive Supermärkte betreiben.